Agilitätsinitiativen: Wertstiftung kommt weit vor dem Selbstzweck
Wirkungsvolle Agilitätsprogramme müssen sich an Kundenzielen orientieren und erfordern einen virtuosen Umgang mit Führungs- und Organisationsstrukturen.
Es herrscht breitflächig Unmut mit der Anpassungsfähigkeit von Organisationen in der heutigen VUCA-Welt (VUCA steht für «volatility», «uncertainty», «complexity» und «ambiguity»). Um diese latente Trägheit zu lindern, lassen Organisationen kräftige Dosen Agilität in ihre DNA einfliessen, sozusagen als scheinbar universell wirkende Medizin. Die Perspektive der 17 freigeistlichen Software-Entwickler, die 2001 das «Agile Manifest» – notabene ohne empirische Fundierung – formuliert haben, wurde zum allgemeingültigen und omnipräsenten Wundermittel emporstilisiert: aus der agilen Software-Entwicklung ist eine agile Projektführung entstanden, die sich wiederum zu einem generellen Führungskonzept transformiert hat. Welche Organisation möchte da schon abseitsstehen und als lethargisch eingestuft werden?
Agilität per se ist kein Ziel
In der Anpassungsfähigkeits-Debatte geht verloren, dass Agilität per se kein Ziel sein darf, sondern ein breitgefächerter Instrumenten-Baukasten zur besseren Zielerreichung darstellt. Um Wirkung zu erzielen, kommen Organisationen gemäss unserer Erfahrung nicht darum herum, den Lösungsraum für den Einsatz von Agilitäts-Werkzeugen auf eine bestimmte Klasse von Problemfeldern in bestimmten Kontexten zu fokussieren. Pauschalaussagen zur Agilität nach dem Prinzip «je mehr, umso besser» gilt es zu relativieren und zu entmystifizieren.
Zu dieser Klasse von dogmatisch ausgelegten Regeln gehört der von Seiten der Agilisten konfliktbehaftete Umgang mit Führungs- und Organisationsstrukturen. Gemäss der Agilitäts-Rezeptur müsse der Weg «zwanghaft über eine generelle Selbstautonomie von Personen und Teams sowie den Abbau von Führungsstrukturen» führen. Dieser kausale Bezug ist in seiner Absolutheit aus unserer Sicht äusserst problematisch, zumal bis heute auch die empirische Evidenz fehlt, dass Strukturauflösung in Organisationen wirklich erfolgsbestimmend ist.
Dies erfordert eine neue Denk- und Handlungsperspektive für Agilitätsprogramme: «Strukturelle Agilität», namentlich die zielorientierte Gestaltung der Führungsstrukturen innerhalb einer IT-Organisation oder auf Gesamt-unternehmensebene ist erfolgsbestimmend und ermöglicht erst, dass agile Teams Wirkung entfalten.
Organisationale Muster nutzen
Strukturelle Agilität gründet auf dem Axiom, dass Führungs- und Organisationsstrukturen als «Enabler» alle Werteflüsse im Unternehmen verantworten. Insbesondere steuern sie das Fliessen von Wissen, Informationen, Finanzmitteln und Personalressourcen. Konsequenterweise müssen auch im Agilitätskontext Führungsstrukturen zielorientiert gestaltet werden. Der Ansatz, nur Hierarchien abzubauen, greift zu kurz. Strukturelle Agilität leistet einen entscheidenden, zusätzlichen Beitrag, dass jederzeit die richtigen Ressourcen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort für Kundenanliegen arbeiten. Hierbei gilt es folgende drei Grundsätze zu berücksichtigen:
- Agilitätsprogramme müssen sich differenziert mit der Gestaltung von Organisations- und Führungsstrukturen auseinandersetzen und dürfen nicht nach dem Ansatz «one size fits all» vorgehen. Dies bildet die Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung und Vertrauen.
- Eine Erhöhung der Anpassungsfähigkeit von Organisationen wird massgeblich durch einen abteilungsübergreifenden Wissens- und Ressourcenaustausch erreicht. Dies erfordert eine Erweiterung des klassischen Organisationsverständnisses durch neue permanente oder ad-hoc-Strukturen wie beispielsweise Communities of Practice, Capabilities oder Interessens-Netzwerke.
- Die Beschleunigung von Entscheidungs- und Prozess-Sequenzen zur Agilitätssteigerung erfordert eine stärkere Fokussierung von Teams. Dies erfordert breitere Führungsspannen auf allen Hierarchie-Ebenen und eine Spezialisierung des Tätigkeitsfeldes von Mitarbeitenden.
Sie finden den Beitrag auch in der Ausgabe 10/2022 von Computerworld.