Agility Myopia

Die Leistungsfähigkeit und die finanzielle Performance einer Organisation ist ganzheitlich zu betrachten. Organisationen müssen sich dementsprechend darauf besinnen, auch Agilität als gesamtorganisationales Konzept zu managen, anstatt mit Scheuklappen nur Teilaspekte isoliert umzusetzen. Nur so erzielt Agilität den ursprünglich anvisierten Mehrwert: Organisationen schneller an Veränderungen im Umfeld anzupassen und Kundenbedürfnisse besser abzudecken.

Organisationale Agilität wird als neue Weltordnung im Management propagiert, um in einem dynamischen Umfeld überdurchschnittlich erfolgreich zu sein. Während die Fähigkeit von Organisationen, sich anzupassen, erforderlicher ist als je zuvor, sind die Handlungsempfehlungen zur Erzielung von Agilität unkontrolliert aus dem Ruder gelaufen. Der Terminus der organisationalen Agilität wird aktuell derart unterschiedlich ausgelegt, dass er zum Unwort verkommen ist und kaum mehr wirkungsorientiert eingesetzt werden kann: Agilität wird mit spezifischen Methoden und Instrumenten, Arbeits- und Organisationsformen, agiler Führung, Selbstverwirklichung und vielem mehr gleichgesetzt. Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel im Denken und im Handeln.

Die drei Kurzsichtigkeiten der Agilität

Der angesprochene Facettenreichtum des Konzepts sowie die terminologischen Inkonsistenzen führen erstens zur fatalen Schlussfolgerung, dass Agilität nach dem Prinzip «je mehr umso besser» umgesetzt wird. Erfolgreiches Management beruht jedoch auf einer strategiegeleiteten Priorisierung und Fokussierung des Ressourceneinsatzes. Dies gilt auch für das Konzept der Agilität. Organisationen müssen somit kontinuierlich darüber befinden, welche Aspekte des Geschäftsmodells prioritär beschleunigt anzupassen sind. Eine Agilisierung von Nebensächlichkeiten macht weder logisch noch wirtschaftlich Sinn und führt zu Ressourcenverschwendung.

Zweitens darf und kann sich Agilität nicht auf Teilbereiche der Organisation begrenzen – wie klassischerweise auf einen begrenzten Perimeter des IT-Entwicklungs-Teams. Die Fähigkeit, sich schnell wandelnden Kundenbedürfnissen anzupassen, entfaltet nur Wirkung, wenn die Verbesserung nach dem Prinzip einer durchgängigen End-to-End-Logik auch über den Touchpoint beim Kunden ankommt. Um den Kreis zum vorangehenden Abschnitt zu schliessen, ist es wichtig, dass die priorisierten Aspekte des Geschäftsmodells end-to-end angegangen werden. Wenn nicht die gesamte Kette von der Auslösung der Veränderung bis und mit Übernahme in den Tagesbetrieb agilisiert wird, entsteht keine Wirkung. Ein agiles Vorhaben ist nur so wirksam wie das schwächste Glied in der (agilisierten) Leistungs-Kette. Eine zentrale Empfehlung lautet dementsprechend, dass Agilität nie als isolierte Fähigkeit, sondern immer als gesamtorganisationale Fähigkeit im Zusammenspiel von (Entwicklungs-)Projekten und operativem Tagesbetrieb anzuwenden ist.

Drittens wird übersehen oder vernachlässigt, dass «Agilität in der Gestaltung von Veränderungen» andere Erfolgsfaktoren bedingt als «Agilität im Tagesgeschäft». Während auf der Ebene von (Entwicklungs-)Projekten hauptsächlich eine Beschleunigung in der Ablieferung von Projektergebnissen erzielt werden muss, liegt die Herausforderung im Tagesbetrieb in der Veränderungsfähigkeit der Betroffenen bei der Einführung der Prozessanpassungen. Wenn also eine neue Passfähigkeit zwischen «Gestaltung der Veränderung» und «Erbringung einer verbesserten Kundenleistung» erforderlich wird, muss ein differenzierter «Methodenkoffer» zur Verbesserung der jeweiligen Agilität eingesetzt werden. Während beispielsweise die Einführung von Scrum für IT-Entwicklungsteams im Normalfall sehr wirkungsvoll ist, ist dies nicht zwingend die richtige Antwort auf Agilitätsherausforderungen im Tagesbetrieb.

Agilität

Agilität ist für Organisationen ein Makro- und kein Mikro-Setting

Organisationen begegnen auf ihrem Weg zur Verbesserung der Agilität den aufgeführten Kurzsichtigkeiten. Stellt sich das Management nicht aktiv diesen Herausforderungen, werden Agilitäts-Initiativen naturgemäss scheitern und die häufig zitierte Best-Practice-Zielsetzung der Reduktion von Projektdurchlaufzeiten um bis zu 50 Prozent verfehlt. Um dies zu verhindern, müssen Organisationen die folgenden Regeln beachten.

Die angestrebte Verbesserung der «Time to Market», die über mehr Agilität erkauft wird, stellt eine signifikante Herausforderung dar und kostet. Bei (Entwicklungs-)Projekten erfordert die Erhöhung der Taktfrequenz über iterative Vorgehensmethoden und kürzere Release-Zyklen mehr Planungs- sowie Koordinationsaufwand. Im Tagesgeschäft muss mehr in die Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden investiert werden. Infolgedessen besteht seitens Managements eine nicht delegierbare Pflicht, klar zu spezifizieren, welche Agilitätsziele auf Ebene der Gesamtorganisation zu verfolgen sind sowie zu präzisieren, in welchen Teams, welche Form von Agilität gefordert ist.

Doch was bedeutet dies konkret? Zwingend ist die Ausdehnung der übergreifenden Priorisierung von Veränderungsvorhaben – beispielsweise im Rahmen eines (Lean) Portfolio Managements – über den Tellerrand von IT-Initiativen hinaus bis und mit Veränderungen im Tagesgeschäft. Notwendig ist die vorher erwähnte Unterscheidung zwischen Agilitätszielen in (Entwicklungs-)Projekten und im operativen Tagesgeschäft. Schliesslich ist für jede Veränderung durchgängig und immer die angestrebte Verbesserung der Kunden-Experience vor Augen zu halten. Welche Wirkung an welchem Kunden-Touchpoint für welche Zielgruppe erreicht wird, bestimmt den Erfolg von Agilitätsbemühungen.

Marco Brogini
Dr. Marco Brogini
Senior Partner
Jean-Marc Riser
Jean-Marc Riser
Senior Solution Architect